HT 2023: Quellen der Mobilität: Überlieferungskritische Interventionen (17.-20. Jahrhundert)

HT 2023: Quellen der Mobilität: Überlieferungskritische Interventionen (17.-20. Jahrhundert)

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Aron Schulze, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

Ausgehend von der Grundannahme, dass Menschen zu allen Zeiten unterwegs waren, jedoch das Wissen und die Erfahrungen dieser mobilen Gruppen heute nur wenig präsent sind, plädierte die Sektion „Quellen der Mobilität: Überlieferungskritische Interventionen (17.-20. Jahrhundert)“ von Simone Lässig (Washington) und Swen Steinberg (Kingston) am Schnittpunkt von Migrations- und Mobilitätsgeschichte, Wissensgeschichte sowie Digital History für einen neuen Zugang zu migrantischen Lebenszeugnissen unter Berücksichtigung digitaler Erschließungs- und Analysemethoden. Die Sektion richtete sich neben dem Fachpublikum auch an Schüler:innen sowie Lehrkräfte.

In der Einführung betonte SIMONE LÄSSIG (Washington), dass die Geschichtswissenschaft ihren Fokus beim Thema Migration zu selten auf marginalisierte Gruppen gerichtet hat. Während männliche Intellektuelle, Unternehmer und Politiker überrepräsentiert sind, kommen insbesondere Frauen und Heranwachsende kaum vor. Dies führte Lässig auch auf die Lage in den Archiven zurück: Derartige Institutionen sind staatlich verfasst und sammeln daher seltener Lebenszeugnisse von „einfachen Menschen“, die wissenschaftlichen Untersuchungen als Grundlage dienen könnten. Zudem schrieben Frauen, Kinder oder wenig Gebildete selten und wenn sie es taten, galten ihre Hinterlassenschaften nicht als besonders wertvoll. Gleichwohl dürfe deren Existenz – ein Beispiel sind die Kontaktzeugnisse zwischen transatlantischen Migrant:innen und den Daheimgebliebenen – von Historiker:innen nicht ignoriert werden.

Um diesem Umstand beizukommen, könnte die Auswertung bislang vernachlässigter Quellenkorpora einen Ansatzpunkt liefern. Insbesondere die umfassende Digitalisierung historischer Daten ermöglicht neue Perspektiven auf die Migrationsgeschichte, die zugleich mit neuen Anforderungen verknüpft sind. In diesem Kontext erscheint die Nutzung digitaler Werkzeuge wie KI-Anwendungen zur automatisierten Handschriftenerkennung als probates Mittel, um aus digitalisierten Beständen aufschlussreiche Datensätze zu generieren. Damit ginge jedoch auch der Anspruch einer Data Literacy und einer digitalen Quellenkritik einher: Wie sind die Quellen entstanden und wem haben sie genützt bzw. für wen waren sie wichtig? Überdies konstatierte Lässig, dass Migrationsgeschichte nicht nur eine Geschichte von Personen, sondern ferner eine der Dinge ist: Gegenstände migrierten mit ihren Besitzer:innen und sind somit selbst Zeugnisse von Mobilitätsprozessen.

Im ersten Vortrag sollte DAGMAR FREIST (Oldenburg) als Leiterin des Verbundprojektes „Prize Papers“ deren innovatives Archivkonzept für Schiffskapergut aus der Frühen Neuzeit vorstellen.1 Sie wurde durch ihre Mitarbeiterin GABRIELLE ROBILLIARD-WITT (Oldenburg) vertreten, die zunächst das beeindruckende Inventar des Archivs skizzierte: Von über 35.000 Schiffen der britischen Seemacht lagern hier gekaperte Kisten und Quellen in verschiedenen Sprachen, die bereits von den Zeitgenossen aus juristischen Gründen dokumentiert und nun durch das Projekt erforscht, digitalisiert und via Open Access zugänglich gemacht werden. Zum Kontext der Archivalien lässt sich sagen, dass Kaperung in Kriegszeiten unter bestimmten Umständen legitim war – beispielsweise bei Schiffen jener Nationen, die mit den Briten im Krieg standen.

Exemplarisch stellte Robilliard-Witt das Briefbuch eines jüdischen Händlers aus der marokkanischen Hafenstadt Salé vor, welches aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges stammt. In portugiesischer Sprache verfasst, wurden die Briefe zunächst transkribiert und anschließend ins Englische übersetzt. Aus der Korrespondenz mit seinen Auftraggebern in Amsterdam werden verschiedene Aspekte des jüdisch-muslimischen Zusammenlebens in Marokko sichtbar: Der Absender berichtet von Bekanntschaften und politischen Kontakten, die ihn bei der Suche nach einer Unterkunft und der persönlichen Versorgung unterstützten. Doch auch geschäftliche Tätigkeiten und verschiffte Waren wurden penibel dokumentiert, um sich rechtlich abzusichern. Eine zentrale, wiederkehrende Figur in den Briefen ist der portugiesische Kaufmann Jacob Curiel (auch: Duarte Nunes da Conta), bei dem der Verfasser untergekommen ist. Dieser und weitere Namen lassen ein Korrespondenz- und Handelsnetzwerk sichtbar werden, das von der iberischen Halbinsel über Nordafrika bis nach Brasilien reichte. Gleichzeitig gewährt das Briefbuch einen fragmentarischen Einblick in die frühneuzeitliche Alltags- und Wissenskultur der jüdischen Diaspora.

Migrationskorrespondenzen standen auch im Zentrum des zweiten Vortrags von URSULA LEHMKUHL (Trier), die den Austausch zwischen mobilen und immobilen Gruppen zunächst als (im-)materielles Kulturerbe der Aus- und Einwanderungsgesellschaft charakterisierte. Anhand des jahrzehntelangen Briefwechsels transatlantischer Migrant:innen betonte sie das Potenzial, Kontinuitäten und Brüche im Sinne einer „longue durée“ aufzeigen zu können. Die Erforschung dieser „hidden histories“ aus Lebenswelt und Alltagshandeln benötige jedoch unkonventionelle Recherche- und Analysepraktiken: Bereits bei der Materialsammlung müssten neue Wege gegangen werden, da sich die Quellen nicht in Archiven, sondern in Privatbesitz und auf Flohmärkten finden lassen.2 Darüber hinaus ist die Autorschaft nicht immer eindeutig geklärt, was enge Kooperationen zwischen Wissenschaft und Bürger:innen erforderlich macht, die durch private Beziehungen biografische Kontextinformationen liefern können. Die Öffnung für Citizen-Science-Projekte zeige bereits erste Erfolge, unter anderem beim händischen Erfassen der Kurrentschrift in den Briefen.

Als zweiten wichtigen Kooperationspartner führte Lehmkuhl die Digital Humanities ins Feld. Einerseits müssten digitale Anonymisierungsstrategien entwickelt werden, die den privaten und intimen Informationen aus den Quellen Rechnung tragen. Zum anderen stellten die mitunter abenteuerliche Orthografie und Syntax der ungeübten Briefschreiber:innen bisher bewährte Programme zur Handschriftenerkennung vor Herausforderungen. Folglich sollte eine Weiterentwicklung der Software-Instrumente an der Schnittstelle zwischen Digital History, Digital Humanities und Citizen Science gefördert werden, um interpretierbare Informationen gewinnen zu können. Abschließend diskutierte Lehmkuhl den umstrittenen Quellenwert dieser alltagshistorischen Selbstzeugnisse, der sich von einer kritischen Haltung seitens der Sozialgeschichte in den 1980/90er-Jahren hin zu einer neuen Aufwertung mikrohistorischer Perspektiven in den 2010er-Jahren gewandelt hat.3

In der anschließenden Diskussion wurde auf mögliche Nachteile des Umgangs mit digitalen Quellen zur Migrationsgeschichte eingegangen. Hier müsse zwischen politik- und alltagshistorischen Erkenntnisinteressen differenziert werden: Bei politischen Dokumenten bleibt der persönliche Kontakt und Austausch mit Archivar:innen unverzichtbar. Deren Expertise könne im Bereich der Politik- und Verwaltungsgeschichte nicht durch die Suchfunktion in digitalen Beständen ersetzt werden. Darüber hinaus wurde auf die Herausforderungen der digitalen Quellenkritik aufmerksam gemacht, die perspektivisch auch eine Modifizierung der propädeutischen Ausbildung im Geschichtsstudium erfordere.

Den zweiten Teil der Sektion eröffnete SWEN STEINBERG (Kingston). Im Zentrum seiner Ausführungen stand der „Transit“-Begriff, womit er Migration nicht nur als Prozess des Abreisens und Ankommens verstand, sondern auch die intermediäre Phase des Übergangs zum Gegenstand historischer Betrachtung machte.4 Dabei ging es ihm um die Erfahrungsgeschichte unbegleiteter Minderjähriger, die mit dem Transit eine ungeplante Lebensphase in hoher Kontingenz durchlaufen haben. Da Menschen im Transit von vielen Prozessen exkludiert waren, die in staatlichen Archiven repräsentiert sind, stellte sich erneut die Frage der Quellengrundlage. Um dieser Herausforderung beizukommen, wählte Steinberg ein Fallbeispiel aus seiner eigenen Forschung: den 16-jährigen Juden Alfred Bader, der in den 1930/40er-Jahren vor dem Nationalsozialismus geflohen und mit einem Kindertransport von Wien über England in ein Internierungslager nach Kanada gekommen war. Sein aus dieser Zeit stammendes Internment Diary wurde von Baders Nachfahren an das Archiv der Queen’s University in Kingston übergeben und hier digitalisiert, transkribiert und übersetzt.

Die Quelle berichtet vom ungewissen Alltag im Transit, in dem Bader zugleich den Prozess des Erwachsenwerdens bewältigen musste. Durch die Praxis des Schreibens nutzte er eine der wenigen Möglichkeiten, Kontakt mit der Außenwelt zu wahren. Gleichwohl blieb diese Verbindung aufgrund der strengen Postzensur im Lager reine Imagination. Zur Sprache kommen überdies konkrete Gewalterfahrungen, die das fremde und feindselige Umfeld in der Transitsituation konturieren. Die emotionalen und physischen Grenzerfahrungen belasteten Bader auch nach seiner Entlassung in den 1950er-Jahren weiterhin. Dennoch verschwieg er fortan seine tatsächliche Herkunft und tabuisierte die Erlebnisse aus der Internierung. Der Transitaufenthalt scheint äußerlich aus seinem Leben zu verschwinden, nur in seinem Gedächtnis bleibt die Erinnerung präsent: wohl 1949 ergänzte Bader „In Memoriam“ auf dem Deckblatt seines aufbewahrten Internment Diarys.

Obgleich Einzelfälle in der Forschung angreifbar bleiben, steht Baders Erfahrung repräsentativ für eine marginalisierte Akteursgruppe mit geringer Handlungs- und Entscheidungsgewalt, die sich in einer ungeplanten Lebenssituation mit Fragen von Identität, Herkunft und Geschlecht auseinandersetzen musste. Das Besondere an Steinbergs Forschungseinblick war die Relation von Transiterfahrung und Jugendalter, die das Gefühl der Entwurzelung bei Migrant:innen besonders deutlich erscheinen ließ.

Abschließend berichtete JOACHIM SCHLÖR (Southampton) aus seiner Forschung über jüdische Familienarchive im Internet, die nach dem Open Source-Prinzip von Privatpersonen mit familiären Fund- und Erbstücken gepflegt werden. Das autonome Sammeln und Bewahren ist seit dem Holocaust fester Bestandteil der jüdischen Agency. Die Genese von virtuellen Plattformen des gegenseitigen Austauschs interpretierte Schlör als Übergangsphase, in der sich die Familienarchive – auch aufgrund des Generationenwechsels – derzeit befinden. Jüdische Erinnerungskultur sei stetig mit dem Problem konfrontiert, aufgrund von Vertreibung, Migration und Diaspora nicht „in einem bestimmten Haus“ stattfinden zu können. Vielmehr verlagerten sich die Archive und ihre Objekte im Laufe der Zeit, womit der Referent die von Simone Lässig postulierte Erweiterung der Displaced Persons um ihre Displaced Things nochmals betonte. Eine Popularisierung der Archivpraxis im digitalen Raum verstand Schlör als Möglichkeit, den Herausforderungen für quellengestützte Forschungen zu jüdischer Migration beizukommen.

Exemplarisch stellte Schlör die Facebook-Gruppe „JEWS – Jekkes Engaged Worldwide in Social Networking“ vor5, in der Jüdinnen und Juden private Fotografien und Dokumente aus dem Familienbesitz hochladen und kommentieren können. Aktuell zählt die Gruppe 2400 Mitglieder, die sich zumeist in deutscher Sprache austauschen. Auch Forscher:innen steht die Gruppe offen, die einerseits Einblicke in bisher unerschlossenes Quellenmaterial erhalten, andererseits durch ihre fachliche Expertise dazu beitragen können, die eingestellten Dokumente zu entschlüsseln oder zu übersetzen. Der Erkenntnisgewinn für Historiker:innen speist sich in erster Linie aus den Details, die in den Dokumenten erwähnt oder auf den Fotografien zu sehen sind. Ob die Facebook-Gruppe tatsächlich als Archiv verstanden werden kann, sei schwierig einzuschätzen, da die geteilten Dokumente weder registriert noch an eine offizielle Stelle übergeben wurden. Gleichwohl bietet sie ein Forum für deutsch-jüdische Migrant:innen, die über die Praktik des kollektiven Sammelns ein Gemeinschaftsprojekt verfolgen und mittels der digitalen Vernetzung eine „virtuelle Landsmannschaft“ für entwurzelte Mitglieder:innen der jüdischen Community geschaffen haben.

Die folgende Diskussion rekurrierte nochmals auf den von Steinberg ins Feld geführten Transit-Begriff und die Frage, wann die ihm zugrundeliegende Phase des Übergangs eigentlich beginnt. Die Diskutanten stellten heraus, dass der Moment des Kontingenzeintritts ein Indikator für den Anfang dieses ungeplanten Lebensabschnitts sein kann. Darüber hinaus wurde bezugnehmend auf die von Schlör vorgestellten Familienarchive über bildungsbiografische Zugangsbarrieren diskutiert, welche die Entstehungs- und Partizipationsmöglichkeiten beeinflussen können.

In ihrem abschließenden Resümee konstatierte Lässig das Phänomen der „migrierenden Archive“ als gemeinsames Element und somit roten Faden der Sektionsbeiträge. Traditionelle Vorstellungen dieser Institution würden hierdurch ein Stück weit infrage gestellt. Gleichzeitig betonte sie nochmals die Herausforderungen, die mit der großen sprachlichen und handschriftlichen Varianz des Quellenmaterials einhergehen. Um die „hidden histories“ in privaten Quellen zum Sprechen zu bringen, benötige es nicht nur epistemische Tugenden und profunde Rechtskenntnisse, sondern auch ein adäquates Maß an Datenethik, um der Verantwortung gegenüber den Quellen und ihren persönlichen Inhalten beizukommen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Simone Lässig (Washington) / Swen Steinberg (Kingston)

Simone Lässig (Washington): Einführung

Dagmar Freist / Gabrielle Robilliard-Witt (Oldenburg): I am writing from this port of Salé, to which God has brought the ship in peace – Handel, Krieg, Migration und die Fragilität des Alltags im frühen 17. Jahrhundert

Ursula Lehmkuhl (Trier): Migrationskorrespondenzen als Quellen für die Analyse von Strukturen, Mustern und Dynamiken von Mobilität in der Perspektive der „longue durée“

Swen Steinberg (Kingston): Menschen im Transit: Quellen aus fluiden Räumen historischer Mobilität

Joachim Schlör (Southampton): Migrantische Familienarchive zwischen privatem Besitz und digitalem Raum

Simone Lässig (Washington): Resümee

Anmerkungen:
1 Der Internetauftritt des „Prize Papers“-Projektes inklusive exemplarischer Einblicke in Fallstudien findet sich unter: https://www.prizepapers.de/ (31.10.2023).
2 Die Forschungsbibliothek Gotha hat mit dem Aufbau einer Sammlung von ca. 12.000 Briefen begonnen, allerdings scheitert die Bereitstellung und Zugänglichkeit noch an finanziellen Mitteln.
3 Die Referentin verwies auf zwei Webseiten, auf denen sich digitalisierte Bestände von Migrationskorrespondenzen finden lassen, siehe unter: https://www.auswandererbriefe.de/; https://www.migrantconnections.org/ (31.10.2023).
4 Vgl. dazu die von Simone Lässig und Swen Steinberg geleitete International Standing Working Group “In Global Transit” des Deutschen Historischen Instituts Washington, online unter: https://transit.hypotheses.org/ (02.11.2023).
5 Siehe online unter: https://www.facebook.com/groups/1556357284602836/ (31.10.2023).

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
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